Czernowitz 

Es ist heiss. Die von tausenden Auto- und Trolleybusreifen blank polierten Pflastersteine auf der Bahnhof- und später der Hauptstrasse gleissen in der Sonne. Wir sind im letzten Aufstieg und schwitzen. Dass Czernowitz auf einem Hügel liegt, haben wir offensichtlich überlesen oder es steht nirgends.

Es gibt Sehnsuchtspunkte auf der Landkarte, von denen man nie weiss, ob man je hinkommt. Irgendwann setzten sich diese Punkte derart im Kopf fest, dass sie die Reiseplanung bestimmen. Czernowitz ist so ein Ort. Weshalb und wann sich diese einst multikulturelle Stadt in meinen Gedanken verankert hat, kann ich nicht sagen. Brody (mehr dazu später) war zuerst. Vielleicht hat Joseph Roth Brody und Ternopil so an den Rand des überlebbaren Daseins gerückt, dass ich mir mit Czernowitz einen urbanen Fluchtpunkt geschaffen habe. Es ist sowieso alles Imagination. Für mich bestand Czernowitz bis heute ausschliesslich aus Geschichten und Gedichten. 

Als wir nach dem Zimmerbezug wieder in die träge Spätnachmittagshitze der Olga Kobylanska Strasse treten, sehen wir als erstes eine Bibliothek (mit einem Bücherausverkauf) und einen Buchladen. Also doch: Die Stadt, in der es einst mehr Buchläden als Bäckereien gab? Auf der Suche nach Spuren der Mulitkulturalität stossen wir auf das Café Bucuresti. Mit der rumänischen Speisekarte kommen wir deutlich besser zurecht als mit der ukrainischen …. und lernen nebenbei noch den ukrainischen Namen von einigen Spezialitäten. 

Unser Czernowitz-Tag beginnt mit dem Stadtrundgang. Der weise Igel (das Stadttier von Czernowitz) weist auf kleinen Keramikplatten in Pfeilform den Weg. Die Erklärungen kommen von einer gut gemachten App. Erste Ueberraschung: Grosse Teile der Stadt sind lebenswert renoviert. Nicht als Museum, sondern so weit, wie es nötig ist, dass man leben kann und der Geist spürbar wird, den die Stadt hätte, wenn die früheren Einwohnenden noch hier wären. Diese haben Geschichten und Geschichte  mitgenommen – allzuviele aus ihrer Wohnung direkt ins Grab. Auch wenn all das schon mehr als 75 Jahre zurückliegt, werde ich den Eindruck nicht los, dass die Leute zwar hier wohnen,  Ihnen die Gebäude aber fremd sind. Die grosse Synagoge ist ein Kino und die Häuser der verschiedenen Völker zu Museen umgewandelt. Die wenigen, stilgerecht gestalteten Kaffehäuser (sie erscheinen echter als in Wien selbst…) erwecken eher den Eindruck von Kommerz als von Vielvölkerstaat. Wie weit die Kirchen unterschiedlicher Konfessionen wirklich noch genutzt werden, lässt sich auf den ersten Blick nicht feststellen. 

 Im Gegensatz zu vielen anderen Städten im Osten ist es hier hell, licht und leicht. Selbst das Innere der orthodoxen Kirchen scheint heller und der Gottesdienst leichter als anderswo. Es ist nicht nur die Hitze, die Czernowitz ein südliches Flair verleiht. Die Leute verweilen bis spätabends schwatzend in der Strasse. 

Der Krieg in der Ostukraine ist auch in Czernowitz allgegenwärtig – und doch sehr weit weg. Wie es wohl vor 120 Jahren hier am Rynek ausgeschaut hat?

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