Brody

Ich kann jetzt nachvollziehen, weshalb ein Angehöriger der KuK-Armee nicht begeistert war, wenn er in Brody stationiert wurde. Beginnen wir am Bahnhof. Er schaut erstaunlicherweise sozusagen gleich aus, wie auf den Postkarten von ca. 1910. Sein Gebäude atmet noch die strenge Würde eines Grenzbahnhofs zwischen den zwei Weltreichen Russland und Oesterreich-Ungarn. Damals fuhren vielleicht noch weniger Züge als die heute 4 oder 5 – heute allerdings in jede Richtung. Genausogut ist nachzufühlen, was die Empfindug war, wenn ein junger, sensibler Offizier zum ersten Mal aus dem Zug ausstieg: „Hier ist es also, das Ende der Monarchie.“

„Die Grenze zwischen Österreich und Rußland, im Nordosten der Monarchie, war um jene Zeit eines der merkwürdigsten Gebiete. Das Jägerbataillon Carl Josephs lag in einem Ort von zehntausend Einwohnern. Er hatte einen geräumigen Ringplatz, in dessen Mittelpunkt sich seine zwei großen Straßen kreuzten. Die eine führte von Osten nach Westen, die andere von Norden nach Süden. Die eine führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die andere von der Schloßruine zur Dampfmühle.“

Vom Bahnhof zum Städtchen führt eine breite Strasse mit viel Ellbogenfreiheit links und rechts, die eher bedrückend als befreiend wirkt. Das Zentrum des Städtchens wirkt heruntergekommen. Ein Eindruck, der durch den Neubau des 24-Stunden Supermakrts noch verstärkt wird. Er steht in schrägem Kontrast zur bröckelnden Fassade des ehemaligen Hotels Bristol. Die Reste der riesigen Synagoge stehen so da, als wäre 1944 erst vorgestern gewesen. Die Ruine als Kulisse für ein Freiluft-Mozart-Festival zu nutzen, wirkt auf mich pietätlos (oder es ist wie in Czernowitz: Weil die heute hier lebenden  Leute keinen Bezug zu Gebäuden haben nutzen sie dise halt irgendwie). Und das Schloss ist immer noch (oder schon wieder?) Ruine. 

Doch da muss etwas mehr gewesen sein als nur die periphere Lage – verwundbar und empfindsam an der Grenze. Die ehemals prächtige Fassade des Hotels Bristol, die riesige Synagoge oder das einst sicher schöne Schloss zeugen davon. Brody war eine Zeit lang die drittgrösste Stadt Galiziens – gleich nach Krakau und Lemberg. Sie war einer der bedeutendsten Handelsplätze der Monarchie. Handel hat noch lange nach seinem Niedergang Brody’s Wesen geprägt.

„Sie handelten übrigens mit Korallen für die Bäuerinnen der umliegenden Dörfer und auch für die Bäuerinnen, die jenseits der Grenze, im russischen Lande, lebten. Sie handelten mit Bettfedern, mit Roßhaaren, mit Tabak, mit Silberstangen, mit Juwelen, mit chinesischem Tee, mit südländischen Früchten, mit Pferden und Vieh, mit Geflügel und Eiern, mit Fischen und Gemüse, mit Jute und Wolle, mit Butter und Käse, mit Wäldern und Grundbesitz, mit Marmor aus Italien und Menschenhaaren aus China zur Herstellung von Perücken, mit Seidenraupen und mit fertiger Seide, mit Stoffen aus Manchester, mit Brüsseler Spitzen und mit Moskauer Galoschen, mit Leinen aus Wien und Blei aus Böhmen. Keine von den wunderbaren und keine von den billigen Waren, an denen die Welt so reich ist, blieb den Händlern und Maklern dieser Gegend fremd. Was sie nach den bestehenden Gesetzen nicht bekommen oder verkaufen konnten, verschafften sie sich und verkauften sie gegen jedes Gesetz, flink und geheim, mit Berechnung und List, verschlagen und kühn.“

Dieses Bild hat sich in unseren Köpfen mit den Eindrücken gemischt, als wir die andere Strasse bis zur Schlossruine hinuntergingen und zum Warenmarkt gelangten. Wir waren schon auf vielen Märkten, doch eine derart selbstverständliche,  vielfältige Geschäftigkeit haben wir vielleicht einmal in Albanien erlebt.

Wir gehen  zurück zum zentralen Platz und halten Ausschau nach einem Kaffeehaus. Die scheinen seit Joseph Roth’s Zeiten nicht zahlreicher geworden zu sein. Überhaupt ist es hier kein Vergleich zu Czernowitz bezüglich Besucherinfrastruktur. Die Stadtführung muss man sich selber zusammenstellen und die spärlichen Verpflegungsstätten wollen zuerst entdeckt werden. Und da manchmal braucht es ein wenig Hilfe von Deutsch sprechenden, die einem helfen, trotz Hochzeitgesellschaften etwas zu essen und trinken zu bestellen. Doch das macht den Aufenthalt hier umso spannender. Auch wenn es keinen Hinweis darauf gibt, dass Brody die Heimatstadt von Josph Roth und Max Margules, eines der grössten jüdisch-deutschen Schriftstellers bzw. einem bedeutenden theoretischen Meteorologen ist.

Wir gehen zurück auf die Strasse, die vom Bahnhof herführt und nehmen die andere Richtung. Nach etwa einer halben Stunde haben wir den Friedhof erreicht. Es ist der grösste jüdische Friedhof, den ich je gesehen habe. Das ist wohl der eindrücklichste Hinweis auf die reiche Vergangenheit dieser kleinen, etwas merkwürdigen Stadt.


In kursiver Schrift sind Auszüge aus: Roth, Joseph. „Radetzkymarsch.“ Kiepenheuer & Witsch. iBooks. 

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