Višegrad !

Wer träumt bei der Lektüre von Ivo Andrić‘s „Brücke über die Drina“ nicht davon, einmal auf dem Sofa mitten auf ebendieser Brücke zu sitzen. Wir haben heute diesen Traum wahr gemacht. Die Brücke ist nicht nur ein eindrückliches, sondern schlicht auch ein schönes, ästhetisches Bauwerk. Der touristische Rummel hält sich in Grenzen und spielt sich vor allem in den Booten auf der Drina ab.

Die Brücke über die Drina

Seit einigen Jahren sollten ja die Touristen nur so nach Višegrad strömen und neben der Brücke die vom Regisseur Emir Kusturica (von ihm stammen Filmklassiker wie Underground, Ariozona Dream, Chat blanc – chat noir) erbaute Kunststadt „Andrićgrad“ besuchen. Als wir dort waren, war dieses städtebauliche Artefakt sozusagen menschenleer. In der Kirche hat eine Angestellte lustlos Kerzenreste weggeräumt. In einem der wenigen (dem einzigen?) geöffneten Lokale mussten wir fast um ein Bier betteln. Abgesehen von Andrić wird in Form von grossen Bronzestatuen ein paar serbischen Grössen gehuldigt. Nichts von dem im Roman über die Brücke so eindrücklich beschriebenen, steten Zusammenraufen der Kulturen und Religionen, von Islam, Katholizismus, Judentum und Orthodoxie. So wie es ist, ist der Komplex vor allem ein einseitiges Zur-Schau-Stellen des serbisch-orthodoxen Teils der Geschichte. Schade um die vertane Chance.

Panorama vom Hauptplatz in Andrićgrad
#menschenleer

Zwar kann Andricgrad durchaus als Nachbau einer urigen, verwinkelten, bosnischen Altstadt mit kleinen Lokalen und Läden (sowie einem Kino) sehen. Doch auch hier bewahrheitet sich, dass gut gemeinte Architektur eben nur gut gemeint ist und nicht mehr. Ob Leben darin stattfindet, entscheiden noch immer die da lebenden Menschen. Und nicht die Touristen, die bestenfalls für ein paar Stunden da sind.

Auf den zweiten Blick wirkt die Stadt irgendwie identitätslos. Die ehemalige Synagoge ist nur Feuerwehrdepot, die Moschee wirkt verlassen und am Bahnhof machen nur noch die Schienen einen gebrauchsfähigen Eindruck. Das einst stattliche Bahnhofsgebäude der bosnischen Ostbahn ist völlig heruntergekommen und von der in Prospekten erwähnten Museumsbahn ist gar nichts zu sehen.
In den Aussenquartieren stehen zahlreiche Kleinst-Reihen-Einfamilienhaus-Zeilen – vermutlich noch immer die Unterkünfte für die seinerzeitigen Flüchtlinge. Ausserhalb der Stadt erinnert ein grosses Mahnmal an die Kriegsverbrechen der kroatischen Ustascha an der serbischen Bevölkerung im zweiten Weltkrieg. Irgendwelche Erinnerungen an den späteren Bosnienkrieg sind nicht auszumachen.

Der einst stattliche Bahnhof von Višegrad an der bosnischen Ostbahn
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