Trauer und Gedenken: Lubicza Kólewska – Belzec – Zamość

65.3 km

Sanft Trommeln die Regentropfen auf das Blechdach vor dem Zimmer, als wir aufwachen. Von dem auf sieben Uhr angekündigten Frühstück ist zu besagtem Zeitpunkt gar nichts zu sehen. Es wird uns beschieden, um acht Uhr wiederzukommen.

Wir machen uns auf zur Gedenkstätte und zum Museum beim seinerzeitigen Vernichtungslager Belzec. Hier wurden 1942/43 etwa eine halbe Million Menschen umgebracht. Die Anlage ist sehr eindrücklich gestaltet. Aber es erstaunt uns, dass für so etwas Unfassbares erst 50 Jahre nach Kiregsende ein Manmahl errichtet wurde. Auf unzähligen Treppenstufen sind chronologisch in stählernen Buchstaben die hauptsächlich galizischen Orte festgehalten, aus denen die Umgebrachten herkamen. Manche Orte sind für viele Monate in den Jahren 1942 und 1943 vermerkt. Viele davon haben wir passiert in den letzten Tagen. Wie würde es wohl heute dort aussehen, wenn dieses grausame Verbrechen nicht stattgefunden hätte?

      

In Gedanken versunken radeln wir weiter. Bald veranlasst uns der starke Verkehr auf der Hauptstrasse 17 auf eine Nebenroute entlang des Flüsschens Wieprz auszuweichen. Doch die Fahrt durch die Föhren-Birken-Wälder und begleitet von Störchen, Neuntötern und anderen gefiederten Zeitgenossen entschädigt für die wieder zahlreicheren Anstiege. Auf einem der drei schönen Marktplätze von Zamosc gönnen wir uns ein Feierabendbier.

Brody

Ich kann jetzt nachvollziehen, weshalb ein Angehöriger der KuK-Armee nicht begeistert war, wenn er in Brody stationiert wurde. Beginnen wir am Bahnhof. Er schaut erstaunlicherweise sozusagen gleich aus, wie auf den Postkarten von ca. 1910. Sein Gebäude atmet noch die strenge Würde eines Grenzbahnhofs zwischen den zwei Weltreichen Russland und Oesterreich-Ungarn. Damals fuhren vielleicht noch weniger Züge als die heute 4 oder 5 – heute allerdings in jede Richtung. Genausogut ist nachzufühlen, was die Empfindug war, wenn ein junger, sensibler Offizier zum ersten Mal aus dem Zug ausstieg: „Hier ist es also, das Ende der Monarchie.“

„Die Grenze zwischen Österreich und Rußland, im Nordosten der Monarchie, war um jene Zeit eines der merkwürdigsten Gebiete. Das Jägerbataillon Carl Josephs lag in einem Ort von zehntausend Einwohnern. Er hatte einen geräumigen Ringplatz, in dessen Mittelpunkt sich seine zwei großen Straßen kreuzten. Die eine führte von Osten nach Westen, die andere von Norden nach Süden. Die eine führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die andere von der Schloßruine zur Dampfmühle.“

Vom Bahnhof zum Städtchen führt eine breite Strasse mit viel Ellbogenfreiheit links und rechts, die eher bedrückend als befreiend wirkt. Das Zentrum des Städtchens wirkt heruntergekommen. Ein Eindruck, der durch den Neubau des 24-Stunden Supermakrts noch verstärkt wird. Er steht in schrägem Kontrast zur bröckelnden Fassade des ehemaligen Hotels Bristol. Die Reste der riesigen Synagoge stehen so da, als wäre 1944 erst vorgestern gewesen. Die Ruine als Kulisse für ein Freiluft-Mozart-Festival zu nutzen, wirkt auf mich pietätlos (oder es ist wie in Czernowitz: Weil die heute hier lebenden  Leute keinen Bezug zu Gebäuden haben nutzen sie dise halt irgendwie). Und das Schloss ist immer noch (oder schon wieder?) Ruine. 

Doch da muss etwas mehr gewesen sein als nur die periphere Lage – verwundbar und empfindsam an der Grenze. Die ehemals prächtige Fassade des Hotels Bristol, die riesige Synagoge oder das einst sicher schöne Schloss zeugen davon. Brody war eine Zeit lang die drittgrösste Stadt Galiziens – gleich nach Krakau und Lemberg. Sie war einer der bedeutendsten Handelsplätze der Monarchie. Handel hat noch lange nach seinem Niedergang Brody’s Wesen geprägt.

„Sie handelten übrigens mit Korallen für die Bäuerinnen der umliegenden Dörfer und auch für die Bäuerinnen, die jenseits der Grenze, im russischen Lande, lebten. Sie handelten mit Bettfedern, mit Roßhaaren, mit Tabak, mit Silberstangen, mit Juwelen, mit chinesischem Tee, mit südländischen Früchten, mit Pferden und Vieh, mit Geflügel und Eiern, mit Fischen und Gemüse, mit Jute und Wolle, mit Butter und Käse, mit Wäldern und Grundbesitz, mit Marmor aus Italien und Menschenhaaren aus China zur Herstellung von Perücken, mit Seidenraupen und mit fertiger Seide, mit Stoffen aus Manchester, mit Brüsseler Spitzen und mit Moskauer Galoschen, mit Leinen aus Wien und Blei aus Böhmen. Keine von den wunderbaren und keine von den billigen Waren, an denen die Welt so reich ist, blieb den Händlern und Maklern dieser Gegend fremd. Was sie nach den bestehenden Gesetzen nicht bekommen oder verkaufen konnten, verschafften sie sich und verkauften sie gegen jedes Gesetz, flink und geheim, mit Berechnung und List, verschlagen und kühn.“

Dieses Bild hat sich in unseren Köpfen mit den Eindrücken gemischt, als wir die andere Strasse bis zur Schlossruine hinuntergingen und zum Warenmarkt gelangten. Wir waren schon auf vielen Märkten, doch eine derart selbstverständliche,  vielfältige Geschäftigkeit haben wir vielleicht einmal in Albanien erlebt.

Wir gehen  zurück zum zentralen Platz und halten Ausschau nach einem Kaffeehaus. Die scheinen seit Joseph Roth’s Zeiten nicht zahlreicher geworden zu sein. Überhaupt ist es hier kein Vergleich zu Czernowitz bezüglich Besucherinfrastruktur. Die Stadtführung muss man sich selber zusammenstellen und die spärlichen Verpflegungsstätten wollen zuerst entdeckt werden. Und da manchmal braucht es ein wenig Hilfe von Deutsch sprechenden, die einem helfen, trotz Hochzeitgesellschaften etwas zu essen und trinken zu bestellen. Doch das macht den Aufenthalt hier umso spannender. Auch wenn es keinen Hinweis darauf gibt, dass Brody die Heimatstadt von Josph Roth und Max Margules, eines der grössten jüdisch-deutschen Schriftstellers bzw. einem bedeutenden theoretischen Meteorologen ist.

Wir gehen zurück auf die Strasse, die vom Bahnhof herführt und nehmen die andere Richtung. Nach etwa einer halben Stunde haben wir den Friedhof erreicht. Es ist der grösste jüdische Friedhof, den ich je gesehen habe. Das ist wohl der eindrücklichste Hinweis auf die reiche Vergangenheit dieser kleinen, etwas merkwürdigen Stadt.


In kursiver Schrift sind Auszüge aus: Roth, Joseph. „Radetzkymarsch.“ Kiepenheuer & Witsch. iBooks. 

Czernowitz 

Es ist heiss. Die von tausenden Auto- und Trolleybusreifen blank polierten Pflastersteine auf der Bahnhof- und später der Hauptstrasse gleissen in der Sonne. Wir sind im letzten Aufstieg und schwitzen. Dass Czernowitz auf einem Hügel liegt, haben wir offensichtlich überlesen oder es steht nirgends.

Es gibt Sehnsuchtspunkte auf der Landkarte, von denen man nie weiss, ob man je hinkommt. Irgendwann setzten sich diese Punkte derart im Kopf fest, dass sie die Reiseplanung bestimmen. Czernowitz ist so ein Ort. Weshalb und wann sich diese einst multikulturelle Stadt in meinen Gedanken verankert hat, kann ich nicht sagen. Brody (mehr dazu später) war zuerst. Vielleicht hat Joseph Roth Brody und Ternopil so an den Rand des überlebbaren Daseins gerückt, dass ich mir mit Czernowitz einen urbanen Fluchtpunkt geschaffen habe. Es ist sowieso alles Imagination. Für mich bestand Czernowitz bis heute ausschliesslich aus Geschichten und Gedichten. 

Als wir nach dem Zimmerbezug wieder in die träge Spätnachmittagshitze der Olga Kobylanska Strasse treten, sehen wir als erstes eine Bibliothek (mit einem Bücherausverkauf) und einen Buchladen. Also doch: Die Stadt, in der es einst mehr Buchläden als Bäckereien gab? Auf der Suche nach Spuren der Mulitkulturalität stossen wir auf das Café Bucuresti. Mit der rumänischen Speisekarte kommen wir deutlich besser zurecht als mit der ukrainischen …. und lernen nebenbei noch den ukrainischen Namen von einigen Spezialitäten. 

Unser Czernowitz-Tag beginnt mit dem Stadtrundgang. Der weise Igel (das Stadttier von Czernowitz) weist auf kleinen Keramikplatten in Pfeilform den Weg. Die Erklärungen kommen von einer gut gemachten App. Erste Ueberraschung: Grosse Teile der Stadt sind lebenswert renoviert. Nicht als Museum, sondern so weit, wie es nötig ist, dass man leben kann und der Geist spürbar wird, den die Stadt hätte, wenn die früheren Einwohnenden noch hier wären. Diese haben Geschichten und Geschichte  mitgenommen – allzuviele aus ihrer Wohnung direkt ins Grab. Auch wenn all das schon mehr als 75 Jahre zurückliegt, werde ich den Eindruck nicht los, dass die Leute zwar hier wohnen,  Ihnen die Gebäude aber fremd sind. Die grosse Synagoge ist ein Kino und die Häuser der verschiedenen Völker zu Museen umgewandelt. Die wenigen, stilgerecht gestalteten Kaffehäuser (sie erscheinen echter als in Wien selbst…) erwecken eher den Eindruck von Kommerz als von Vielvölkerstaat. Wie weit die Kirchen unterschiedlicher Konfessionen wirklich noch genutzt werden, lässt sich auf den ersten Blick nicht feststellen. 

 Im Gegensatz zu vielen anderen Städten im Osten ist es hier hell, licht und leicht. Selbst das Innere der orthodoxen Kirchen scheint heller und der Gottesdienst leichter als anderswo. Es ist nicht nur die Hitze, die Czernowitz ein südliches Flair verleiht. Die Leute verweilen bis spätabends schwatzend in der Strasse. 

Der Krieg in der Ostukraine ist auch in Czernowitz allgegenwärtig – und doch sehr weit weg. Wie es wohl vor 120 Jahren hier am Rynek ausgeschaut hat?

Durch das Land der Hutsulen (Poljanizja – Kolomea)

99.5 km

Als wir am Morgen in den Sattel steigen ist es noch angenehm kühl. Während der Westen Europas im Glutofen brütet, frieren wir in der rasanten Abfahrt am Ostabhang der Karpaten in den schattigen Wäldern. Bukowel bzw. Poljanizja werden wir so rasch nicht los. Schier unendlich reichen die grossen und kleinen Hotels. Da muss im Winter ein ordentlicher Rummel sein! Abgedrängt in die Brachflächen bei den Abfallcontainern hütet da und dort ein Hirte ein paar Kühe. Irgendwann geht dann die Abfahrt durch den Tannenwald vorbei an vereinzelten Einstiegen zu Wanderwegen (die sind hier sehr restriktiv angelegt und man muss bei jedem Eintritt bezahlen) und sonst ist weitgehend Ruhe.

Die Strasse ist neu, top ausgebaut und breit genug für zwei schnelle Fahrzeuge und Radfahrer auf beiden Seiten der Strasse. Ja, heute begegnen wir besonders vielen Radfahrern und sie haben sehr gute Velos. Alle paar Kilometer hat es eine neue Tankstelle (Raststätte), mit kalten Getränken und WC.

Jaremche ist der erste grössere Ort. Dort ist grad Jahrmarkt oder man könnte auch sagen ein Aufmarsch aller Grillmeister im Umkreis von 100 km oder so. Bei der Einfahrt in den Ort gibt es einen langen Rückstau: die ganze Innenstadt ist gesperrt. Die meisten Leute tragen eine Tracht zur Schau und wir können uns an den zahlreichen Ständen kaum satt sehen. So also sehen Feste der Hutsulen aus! Wir kaufen Souvenir (schon wieder!) und verpflegen uns an einem Stand. Es gibt Fleisch vom Grill und Tomatensalat – zum Zmittag.

Nach dem Ort verlässt die Nationalstrasse N-09 das Pruttal. Wir kommen gut voran und nehmen etwa 30 Kilometer vor dem Tagesziel einen kleinen Umweg auf einer kleinen Strasse, die durch den Nationalpark „Hutsulenland“ führt. Die Nebenstrasse ist neu asphaltiert (was wir anfänglich kaum zu glauben vermögen) und schon im zweiten Dorf laufen wir einer Hochzeit über den Weg. Weiter führt die Strasse durch schmucke Dörfer – so eine Art Entlebuch, einfach ohne Subventionen und Direktzahlungen, dafür viel und gut sichtbarer Eigeninitiative. Nur der auf der Karte eingezeichnete Nationalpark ist im Gelände nirgends angeschrieben…  Kolomea überrascht einmal mehr mit einer schicken Altstadt, die architektonisch einen ausgeprägt altösterreichischen Atem ….

Hutsulenhochzeit

Jassinija – Poljanizja (Bukowel)

18.3 km

Um den Aufenthalt in den Karpaten etwas zu verlängern, fahren wir nicht gleich nach dem Jablunizja-Pass (943 m) weiter in die Ebene runter, sondern nach Pojanizja. Am höchsten Punkt der Strasse herrscht der für Karpatenpässe unvermeidliche Jahrmarkt. Und wie immer können auch wir nicht widerstehen bei einem der Souvenirstände… Am Ziel angekommen, realisieren wir rasch, dass wir eigentlich in Bukowel – im scheinbar modernsten Ski-Resort der ukrainischen Karpaten gelandet sind. Es gibt 14 Lifte und 63 km Piste zwischen ca 950 und 1500 m.ü.M. Überall stehen Schneekanonen. Das Wasserreservoir dafür wurde von Anfang an als multifunktionaler Wasserpark angelegt: Vom simplen Baden über Wasserskifahren bis zu Bungy-Jumping kann man hier alles tun (bzw. darf der geneigte Konsument bezahlen). Das Gelände wird bis hinter die letzte Tanne mit Diskomusik beschallt. Man kann nur hoffen, dass dieses Versatzstück alpiner Tourismus-Exzesse in dieser sonst so urtümlichen Gegend ein Unikat bleibt und das als mustergültig geltende Biosphärenreservat mit den zahlreichen Schutzzonen keinen allzugrossen Schaden nimmt.

Jahrmarkt auf der Passhöhe

   

Vinohradiv – Sighetu Marmatiei (RO)


82.6 kmGleich hinter Vinohradiv gehts über ein erstes Pässchen mit einem wunderschönen Ausblick auf das obere Theiss-Tal ermöglicht. Auf den ersten 30km bis Chust ist die Strasse breit und der Verkehr erträglich. Das Zentrum von Chust besteht auch aus einer grosszügigen Fussgängerzone – was wir nicht in dieser Art erwartet haben. Die zahlreichen Strassencafes erinnern mit ihren grossen Sofa-Sesseln an Südserbien. Wir machen gerne Pause und geniessen einen „Americano“. Nach Chust weicht die Strasse einer Ansammlung von Schlaglöchern, so wie für die Ukraine aufgrund der Berichte anderer Veloreisender befürchtet. Besonders schlimm sind die Bahnübergänge. Eindrücklich sind die breiten Flussbetten der Zuflüsse zur Theiss. Sie zeugen von den schweren Unwettern, die es hier geben kann. Dazwischen fahren oder besser rumpeln wir durch eher ärmliche Dörfer und schmuckere kleine Städtchen. Zwischendurch hat es immer wieder brandneue Luxusvillen im ähnlich modern-barocken Stil wie auf der gegenüberliegenden Seite in Rumänien, rund um Negresti-Oas. Dort, heisst es, würden sie von den Rückkehrern gebaut, die im Westen ihr Geld verdienen. Dieses Phänomen scheint sich nun über die Grenze auszudehnen. Am späteren Nachmittag erreichen wir Solotwyno. Dort gibt es einen Grenzübergang nach Rumänien, wo wir in der Villa Roza in Sighet eine Unterkunft reserviert haben. Nach längerem Suchen  finden wir den Einstieg über eine Kopfsteinpflasterstrasse. Am Zoll ein freundlicher Empfang – die rumänischen Zöllner wechseln sofort auf französisch, als sie unsere Pässe sehen… 

Mateszalka – Vinohradiv 

Diese Strecke könnte man schon fast als Klassiker bezeichnen – mindestens der Anfang auf der Hauptstrasse 49 bis Györtelek gehört wohl zu unseren meistbefahrenen Velorouten im Ausland… Doch diesmal wartet eine Überraschung auf uns: Beim Ortsausgang von Mateszalka werden wir auf einen nigel-nagelneuen Veloweg geführt. Das hellt das Gemüt angesichts der eher schwärzlichen Wolken deutlich auf – die paar km auf der schmalen und verkehrsreichen 49er waren noch nie ein Genuss. Bis vor die ukrainische Grenze passiert nicht mehr viel (ausser dass wir – wie es in dieser Gegend noch jedes Mal der Fall war – etwas abgeschifft werden). An der Grenze nehmen wir uns Zeit für ein Mittagessen in einem der nicht mehr gar so taufrischen Lokale. Für einen Teller Pasta und eine Weile den Roms bei ihren Geschäften zuzusehen reichst allemal. Hinter dem Zoll, in Vylok, passiert dann auf weniger als 1 km mehr als in den 40 km zuvor. In einem Garten gedenken ein paar Männer einer verstorbenen Person – auf dem Tisch neben der Urne steht eine ungeöffnete Flasche Bier. Auf der Strasse wird grad vor meinen Augen ein Hund überfahren und einige Augenblicke später ein Pferdegespann fast von einem 40-Tönner gerammt. So geht es also kurz nach der EU-Aussengrenze! Vinohradiv haben wir noch nie so belebt gesehen. Da läuft etwas in dem Städtchen – mindestens bist 7 Uhr am Abend. Spätestens um 8 Uhr machen auch die Kaffees zu. 

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 Modere Autowaschanlage als „Pioniervegetation“ für den wirtschaftlichen Auschwung? Ganz neu am Ortsausgang von Vylok.

 

Mateszalka!

Da stehen wir also zum x-ten Mal am überaus grosszügig dimensionierten Bahnhof von Mateszalka. Das Gleisfeld verliert sich irgendwo am südöstlichen Horizont in der Puszta und es scheint in der Länge Dimensionen zu haben, die es mit dem HB in Zürich vergleichbar machen. Da wirken die ohnehin schon bescheidenen gelb-roten Schienenbusse der MAV-START noch einsamer als ohnehin schon, auch wenn sie in fünffacher Komposition auffahren. Diesmal erwischen wir einen ganz normalen blauen Regionalzug, d.h. einen mit Waggons aus – sagen wir mal – den Fünfziger Jahren. Nix mit StadlerRail-Zügen wie rund um Budapest. Bei einem solchen würde wahrscheinlich die Software alle 10 km aussteigen, weil die Schienen noch in einem schön regelmässigen Takt holpern. Und diese Mischung aus Schlagzeug und mitunter deutlich spürbarer Bewegung befördert einen nach und nach in den für Zugsreisende typischen Dämmerzustand.Die Aufmerksamkeit nimmt jeweils zu, wenn der Zug anhält. Durch die schon länger nicht mehr gewaschenen Fenster sind manchmal Bahnhofsschilder sichtbar mit so exotisch klingenden Namen wie Hajdusamson, Nyirbator oder Hodasz. Dort wacht dann mit strenger Ernsthaftigkeit eine uniformierte Person (vom bierbäuchigen nicht mehr ganz so jungen Bahnbeamten bis zur elegant geschminkten Dame gibt’s das ganze Spektrum) darüber, dass ordentlich ein- und ausgestiegen wird.. Manchmal hält der Zug auch einfach irgendwo im Wald. Nirgends ein Dorf oder ein Stationsgebäude, aber immer Leute, die auf einem perronähnlichen Grasstreifen aussteigen und angeregt schwatzend des Weges gehen. (Das liegt wohl an der Sprache – eine Schar ungarisch sprechender Menschen klingt in meinen Ohren wie ein unbeschwerter Schwarm Spatzen.)

Das Bahnhofsgebäude von Matzeszalka ist klein, einladend und es herrscht eine muntere Stimmung von kommen und Gehen, Begrüssen und Verabschieden. Zwischendurch stehen ein paar Roms herum, dies waren wahrscheinlich schon letztes Mal da. Ob die auf jemanden warten oder jemanden zum Zug gebracht haben? Irgendwo zwischen Kiosk und Blumenladen hat Dor geduldig auf uns gewartet. Sorgsam holt er sein fluier aus dem abgewetzten Rucksack und beginnt mit den ersten Tönen seiner Doina. Wir sind wieder da! ….und freuen uns auf das nächste Abenteuer in den Karpaten.

Amesbury – Sherborne

Farbenfrohe Innenstadt von Salisbury

Die Karte der heutigen Etappe lässt zumindest für die ersten paar Kilometer auf ruhiges Genussradeln entlang einem Flüsschen hoffen. Das ist auch in der Realität mehr oder weniger so. Nach knapp 20 km erreichen wir Salisbury und sind wieder einmal überrascht über ein schmuckes, kleines Städtchen mit riesiger Kathedrale (diesmal mit hohem, spitzem Turm). In einem prächtigen Nebengebäude ist eine Kopie der Magna Carta ausgestellt – so eine Art Bundesbrief der Briten. Wir vertiefen uns in die Besichtigung, können dann auch etwas besser nachvollziehen, weshalb sich diese Inselbewohner nur ungern dreinreden lassen (die Magna Carta wird mit einem Video zeitgemäss gedeutet) und vergessen fast das weiterradeln. Doch zuerst müssen wir an zahlreichen Polizeiabsperrungen vorbei.  Die Giftgasanschläge vor wenigen Wochen sind noch allgegenwärtig.

Im bereits üblichen Auf und Ab geht es mehr oder weniger zügig weiter bis nach Shaftesbury. Das ist auch so ein hübsches Städtchen mit altem Kern, aber im Gegensatz zu den bisherigen steht es auf einem Hügel und nicht tief unten in einem Tal. Bei Aussicht geniessen wir ein Glace auf einem der wenigen schattigen Parkbänke. (Davon gibt es in diesem Land nur sehr wenige. Offensichtlich ist in einem normalen Sommer wenig Bedarf danach, d.h. in den wenigen regenfreien Stunden setzen sich die Leute lieber ganz an die Sonne….). Kurz vor unserem Tagesziel machen wir etwas unangenehm Bekanntschaft mit einem englischen Adligen (oder einem seiner Adlaten). Unser Routenplaner navigiert uns offensichtlich durch seinen Grundbesitz. Es gibt zwar einen Fussweg durch das Anwesen des „Sherborne Castle“, aber da müssten wir das Velo tragen (sic!). Für unsere Argumente punkto Umweg am Ende einer 80 km Etappe hat er absolut kein Musikgehör, lässt dann aber beim Wegfahren den Motor seines Land Rovers laut aufheulen… Der Umweg reduziert sich dann auf eine schwungvolle Abfahrt und schon bald sitzen wir hinter einem „Sierra Nevada“ im „Half Moon Inn“ beim Znacht und lauschen dem chaotischen Geläut einer weiteren Kathedrale (so ähnlich wie im Tessin die Kirchen läuten – nur ziemlich viel lauter) … und sind froh, dass dieses gegen 22 Uhr verstummt.

2xSchweiz, 1xgrosser Fluss und zum Schluss viel Barock

Das Zittauer Gebirge haben wir rasch hinter uns. Der Werbeslogan vom ‚kleinsten Mittelgebirge‘ ist also keineswegs zu hoch gegriffen. Wenn man bei paar halbhohen Waldhügeln den Begriff ‚Gebirge‘ überhaupt bemühen darf… Auf ein paar schmalen Strässchen erreichen wir die nur schwach gekennzeichnete Grenze nach Tschechien. Der gut ausgeschilderte Radweg 3015 führt uns entlang von Bächen und Flüsschen von einer Wasserscheide zur nächsten – dementsprechend geht’s einmal mehr schweisstreibend rauf und runter. Die Einschnitte werden nach und nach canyonartiger und dann stehen wir vor einem Nationalparkschild ‚böhmische Schweiz‘. Höhepunkt ist am Ende einer Abfahrt, kurz bevor wir die Elbe erreichen: Eine wunderbare Schlucht, vollgestopft mit Hotels, Restaurants, Glaces- und Souvenierständen: Halt ein Riesenjahrmarkt nach bester Osteuropäischer Manier.

Von der böhmischen geht es nahtlos in die sächsische Schweiz. Die Sandsteinformationen am Elbufer werden noch ein Stück imposanter. Mit Rückenwind gehen die nächsten 30 km auf dem Uferradweg wie im Flug dahin. Der Fernsehturm vom heutigen Tagesziel Dresden ist schon fast in Griffnähe, doch von der Grossstadt spüren wir noch nicht viel. Zwischen der Elbe und den Siedlungen hat es einen breiten Wiesen- und Bruchwaldsaum. Erst kurz vor der Augustusbrücke steht die Skyline mit der Frauenkirche im Zentrum in voller Wucht vor uns. Im Nu packen wir ab, beziehen wir das Hotelzimmer und machen uns auf zum Nachtessen am Hauptplatz.